Volker Adolphs
Das Eigene und das Andere
Die Konstruktion der Natur in der Kunst
Das Nahe und das Ferne, das Vertraute und das Fremde, das Eigene und das Andere – was Natur für den Menschen ist, lässt sich nur in Gegensätzen und einem Sowohl-als-auch beschreiben. Die Natur ist das, was außer uns und ohne uns ist, und doch sind wir selber Natur, sie scheint selbstverständlich gegeben und ist dennoch ein Problem, über das wir unablässig nachdenken: Geborgenheit und Gefahr, spiritueller Grund und Rohstofflieferant, überwältigende Größe und konsumierbare Ware. Reflektierend zurücktreten und die Natur als ein Gegenüber, als das Andere, das nicht Ich ist, anschauen und behandeln zu können, scheint uns eine besondere Leistung des Menschen, zugleich empfinden wir diese Position als Quelle der Missachtung der Natur und als Verlust der Einheit mit ihr. Heute weniger bedrohlich als bedroht, ist sie Sinnbild des Ursprünglichen und der Fülle des Lebens, gerade weil es unberührte Natur kaum noch gibt.
Von allen Modellen der Deutung der Welt wurde die Natur in den Blick genommen und angeeignet, Mythos, Religion, Philosophie, Kultur, Wissenschaft, Ökonomie, Ökologie. Zu sagen, was die Natur ist, führt somit in einige Schwierigkeiten. Man könnte mit einer historisch-lebensweltlichen Perspektive beginnen. Am Anfang war der Mensch Jäger und Sammler, Teil einer umfassenden Natur, von der er nahm, was sie ihm anbot, die Leben erzeugte und wieder auslöschte. Es gab für ihn nur diese Wirklichkeit einer allgegenwärtigen und unüberschaubaren Natur. Als der Mensch sesshaft wurde und zum Ackerbau und zur Viehzucht überging, zog er Grenzen in der unbegrenzten Weite des Naturraums. Er nahm Land in Besitz, rodete und bebaute es, unterschied nützliche Pflanzen und Tiere von schädlichen. Das kultivierte und gestaltete Stück Natur verteidigte er gegen die unerschlossene, bedrohliche Natur. Der damit entstandene Gegensatz von Kultur und Natur hat das Denken tief geprägt. Erst in dieser Unterscheidung entstand der Begriff der Wildnis. Solange es aber keine moderne Technik gab, war das Leben der Menschen eng an den jahreszeitlichen Rhythmus der Natur gebunden. In dem Maße, in dem die Bevölkerung wuchs und sich industrielle Möglichkeiten der Naturverwertung entwickelten, nahm auch die Intensität der menschlichen Eingriffe in die Natur und damit die Entfernung des Menschen von der Natur zu. Die Natur wurde zum Materiallager für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Der Mensch, der sich als Beobachter und Beherrscher der Natur fühlte, konnte sie ausbeuten im Glauben, dass die Folgen dieser Ausbeutung ihn nicht treffen. Die wilde Natur schien nicht mehr gefährlich, vielmehr schrumpfte die Wildnis zu Restflächen, die ihrerseits geschützt werden mussten. Das Wuchern der Städte im 20. Jahrhundert rückte die Natur auch räumlich in die Ferne. Einer urbanisierten Gesellschaft ist sie nicht mehr sichtbar.
Die Betrachtung der Natur als Objekt menschlicher Interessen und Entscheidungen setzt die intellektuelle Emanzipation des Subjekts voraus, das eine Grenze zwischen der Außenwelt und dem geistigen Selbst errichtet. Diese Trennung erlaubt ihm, über seine Beziehung zur Natur nachzudenken. Solches Nachdenken ist Teil der Geistesgeschichte und nicht unmittelbar identisch mit der Geschichte der naturwissenschaftlichen Erforschung der Natur, die die Natur auf eigene Weise als Objekt distanziert und entzaubert. Das Unternehmen, durch Beobachtung und Experiment unveränderliche Gesetzmäßigkeiten der Natur festzustellen, führt zwar nicht zuletzt zum Bewusstsein der Natur als ein sensibles System vielfältiger Beziehungen, sein Ziel ist aber nicht, unser Verhältnis zur Natur, die Bedeutung der Natur für uns zu beschreiben, weder geistig noch sinnlich und emotional.
Dieses Verhältnis artikuliert sich in unterschiedlichen Kulturformen der Natur. Eine der frühesten ist der Garten als Topos des Paradiesischen, als ein gegen die umgebende Wildnis und Wüste abgegrenzter Bezirk, in dem der Mensch den Reichtum der Natur entwickelt und pflegt. Im Garten, im Park, in der Landschaft greifen Natur und Kultur ineinander. Innerhalb einer komplexen begrifflichen Genese bedeutet Landschaft zunächst in politisch-geografischem Sinn ein dem Menschen zugänglicher oder von ihm bebauter, verwalteter Teil der Natur. Sie bezieht sich in jedem Fall auf die Existenz des Menschen und gewinnt zunehmend die Bedeutung eines Stücks Natur, das im Sehen herausgetrennt, vom Sehen begrenzt, geordnet und als Einheit erfahren wird und darin die unbegrenzte Ganzheit der Natur vertritt.[i] Die Landschaft ist ein Modell, Natur wahrzunehmen, sie existiert nicht ohne das anschauende, reflektierende Gegenüber, wird von ihm geradezu geschaffen. Diese visuelle Verbindung betont den Bildcharakter der Landschaft. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert wird die Landschaft immer mehr zum Synonym für das Landschaftsbild als gemaltem Naturausschnitt, als ästhetisch erfahrbare Natur. Die Landschaft ist unter der Bedingung bestimmter Ideen und Werte konstituierte und individualisierte zunächst auf das Erlebnis von Schönheit und Harmonie gerichtete Natur. Neben die Schönheit einer überschaubaren und sinnvoll geregelten Natur tritt, zum Beispiel im Anblick von Gebirgsregionen, die Erfahrung einer menschenfernen, unendlichen, wilden Natur, die Schrecken und Bewunderung und damit das Gefühl des Erhabenen erzeugt.
Diese Diskussion ist nicht nur die Diskussion einer historischen Ästhetik. In einer Zeit, in der der Natur immer engere Grenzen gezogen werden, suchen wir nach Erlebnissen der Entgrenzung durch Natur, nach einer Realität, die über das einzelne Ich hinausgeht. Die Natur soll sich frei und eigenmächtig zeigen, weil wir durch sie auch unsere Freiheit erleben. Sie soll etwas sein, das aus sich besteht und über das wir trotz unserer Bemühungen, es zu zerstören, letztlich keine Gewalt haben. In der Unübersichtlichkeit der Welt und des eigenen Lebens darin kann die Natur als eine Wahrheit erfahren werden, die Sinn und Richtung gibt. Sie ist eine komplex differenzierte Vielheit der Erscheinungen, der Teilungen und Verbindungen und erscheint darin doch als eins und das eine, in ihrer Wandlungsfähigkeit als unwandelbar, in ihren Kreisläufen als unvergänglich, somit als eine Größe, in die das Ich sich einstimmen will, um seine Identität in der Identität mit der Natur zu finden. Sich der Natur anzueignen und sich in ihr zu vergessen, ist eine der möglichen Haltungen zum Anderssein der Natur, allerdings mehr eine Projektion, ein Gefühl, eine Sehnsucht als eine vollziehbare Realität des Lebens. Immerhin artikuliert sich diese Sehnsucht auch handelnd, zum Beispiel in der Abenteuerreise, die den Reisenden ans Ende der Welt führen soll, wo er sich der Illusion hingibt, dass es die ungesehene, authentische, ihn umgreifende Natur noch gibt. Der andere Modus, dem Anderssein der Natur zu begegnen, sieht vor, sich die Natur anzueignen und sie dabei zu vergessen. Das Andere der Natur wird erledigt, indem der Mensch die Natur ökonomisch benutzt, technisch beherrscht, in den gesellschaftlichen Raum hinein auflöst und seinen Wünschen so anpasst, dass sie als Eigenes verschwindet, unsichtbar wird. Allenfalls im Refugium der städtischen Grünanlage oder des zoologischen Gartens werden Reste von Natur noch verwaltet, manchem scheint die künstliche Natur der Wellness-Oase schon natürlicher als die Natur zu sein. Überall trifft man auf zubereitete Natur, Ersatznatur und Simulationen, ob dieser Verlust und die Entfremdung der Natur als solche empfunden wird oder nicht. In mehrfacher Hinsicht ist somit das Verhältnis zur Natur von Ferne und Nähe bestimmt. Ferne und Nähe bezeichnen die mentale und emotionale Beziehung zur Natur, aber auch die körperliche Bewegung in den Naturraum hinein und aus ihm heraus und den handelnden Umgang mit der Natur, indem wir sie schützen oder zerstören.
Dabei denken, reden, handeln wir so, als ob es „die“ Natur gäbe und wir einen unmittelbaren Zugang zu ihr hätten, mehr noch, die Sprache macht deutlich, dass der Natur nicht nur ein Objektcharakter, sondern auch ein Subjektcharakter zugeordnet wird. Wir sagen, die Natur ist lieblich oder wild, sie zeigt sich freundlich oder grausam. Auch wenn versucht wurde, eine Ästhetik der Natur über die Vorstellung einer handelnden, mitaktiven Natur zu begründen,[ii] ist die Natur kein von sich wissendes Gegenüber, sie antwortet nicht, sie hat keine Empfindungen, sondern dient als Resonanzraum von Empfindungen, es ist unsere Sprache, mit der wir die Natur zum Sprechen bringen. Dabei ist der Begriff der Natur nicht einmal ein empirischer Begriff, er deckt sich nicht mit den sinnlich-körperlichen Erfahrungen der einzelnen Gegenstände der natürlichen Welt, sondern isoliert die „Natur“ als ein abstraktes Ganzes von anderen Begriffen, mit denen wir unsere Welterfahrung ordnen. Mit Begriffen und ihren Beziehungen versuchen wir uns in einer komplexen Welt zu orientieren und sie zu beherrschen. Das auf die Welt gerichtete Wahrnehmen, Erkennen, Handeln ist immer schon philosophisch, politisch, geografisch, künstlerisch besetzt und durch mitgebrachte Ideen, Interessen, Werte, Gefühle, Vorstellungen und nicht zuletzt durch moderne Kommunikationsmedien präformiert und konstituiert. „Natur“ ist somit eine kulturelle Konstruktion, abhängig von sich historisch ändernden Erkenntnisbedingungen. Der Mensch sieht nur, was er zu sehen bereit ist und sehen kann, wohl auch, was ihn die Medien in einer zunehmend virtualisierten Welt sehen lassen. Das Verhältnis zur Natur kann nicht unmittelbar, das Bild der Natur nicht identisch mit der Natur sein.
Einen Realismus für unangemessen zu halten, der behauptet, dass die Dinge so sind, wie wir sie sehen, bedeutet noch nicht, einem Konstruktivismus zu folgen, für den alle Modelle der Natur nur bloße Erfindungen und Hypothesen, freie Schöpfungen des Geistes sind, mit denen wir eine möglichst kohärente Vorstellungswelt aufbauen, die aber nichts mit dem zu tun haben, was sie beschreiben.[iii] Zu sagen, dass die „Natur“ ein begriffliches Konstrukt ist, heißt nicht, dass sich dieses Konstrukt nicht auf eine reale Ursache bezieht und etwas über sie aussagt. Aus der Einsicht, dass wir Natur nur durch unsere Wahrnehmung und unser Erleben kennen können, zu schließen, dass es jenseits dieser Wahrnehmung nichts gibt, wäre eine arrogante Leugnung der Abhängigkeit unseres Lebens von nicht-menschlichem Leben. Die „Natur“ ist zwar ein Spiegel, auf den Ideen und Wünsche projiziert werden, sie bezeichnet aber auch eine autonome materielle Wirklichkeit, die den Menschen, der selbst Natur ist, umgibt, bedingt, begrenzt. Unsere lebensweltliche korrespondierende Verbindung zur Natur ist Grundlage unserer Existenz. Auch die Wahrnehmungsformen der Natur sind Teil der Realität der Natur. Im Wahrgenommensein erscheint die Natur in je unterschiedlicher Weise, wobei dieses Wahrnehmen weder mit der Natur zusammenfällt noch unabhängig von ihr ist. Somit ist „Natur“ und ihre Abgrenzung gegen „Kultur“ einerseits eine Leistung der Kultur, die aus sich heraus ihren Gegenbegriff „Natur“ setzt, andererseits muss jede Kultur anerkennen, dass sie nur ist, weil Natur ist, und sich als Lebensform innerhalb der Wirklichkeit der Natur begreifen.[iv]
In diesen Kontext fügt sich die Kunst als ein Weg und eine Möglichkeit der kulturellen Konstruktion von Natur ein. Eine lange Folge von Bildern, die sich ihrerseits aufeinander beziehen, dokumentiert ihre Auseinandersetzung mit der Natur. Entsprechend ausdauernd schlug sich die Ästhetik mit der Frage nach der Stellung des Natur- und des Kunst-Schönen herum. Ist die Kunst Mimesis der Natur oder eine über die Natur hinausgehende Schöpfung oder kann sie beides zugleich sein? Eine wesentliche Differenz von Kunst und Natur wurde jedenfalls immer konstatiert. Kunst liefert Interpretationen von Natur, entwirft Bilder, wie wir Natur anschauen können. Das Bild der Natur weist einen Ort zu, von dem wir es als im Raum Begrenztes anschauen. Dies ist etwas substanziell anderes als sich innerhalb eines unbegrenzten offenen Naturraums körperlich zu erleben und zu bewegen, umgeben zu sein von wechselnden Dingen, im Gehen und Sehen immer neue Orte festzulegen. Dies gilt ebenso dort, wo sich die Kunst über das gemalte oder fotografierte Bild hinaus installativ in den Raum weitet. Im Anschauungsraum der Kunst erscheint Natur nur so, dass jede emotionale Betroffenheit und Überwältigung durch Natur immer zugleich kontrolliert und distanziert wird durch das Wissen um die künstlerisch hergestellte Situation und deren ästhetische Beurteilung.
Auch und gerade die Kunst der Gegenwart verdeutlicht, dass Kunst nicht Natur sein kann, sie setzt den Betrachter nicht unmittelbar der Natur aus, sondern dem eigenen Blick auf Natur, der zwischen die Natur und den Betrachter tritt. In der Kunst begegnen wir fremder Erfahrung der Natur, selbst dort, wo die Kunst sich in die Natur begibt, Materialien und Formen aus der Natur verwendet, Naturkräfte freilegen will.[v] Wenn die Kunst somit in verschiedener Hinsicht das Gegenteil von Natur ist, gibt es doch nichts, mit dem sich die Kunst mehr beschäftigt als mit der Natur. Die Kunst macht die Natur deshalb zum Thema, weil sie einerseits in der Differenz Klarheit über die eigene Definition und Stellung gewinnt und weil die Natur andererseits ein Gemeinsames außerhalb der Kunst ist, auf dessen Erfahrung sich die künstlerischen Entwürfe in ihrer Unterschiedlichkeit beziehen können und in dem sich Kunst und Leben treffen. Die Kunst beschreibt und fixiert nicht nur die eigenen Grenzen zur Natur, sondern eröffnet auch Zugänge zu einem neuen Verständnis von Natur. Die Ausstellung formuliert diese Doppelperspektive, die unterschiedlichen Möglichkeiten von Annäherung und Entfernung. Eine einheitliche Aussage zur Erscheinung von „Natur“ ist auch von der Kunst nicht zu erwarten.
Traditionell war die Natur das Aufgabengebiet der Stillleben- und Landschaftsmalerei. Die Durchsetzung der Abstraktion bedeutete nicht das Verschwinden der Natur. Die gegenstandslose Kunst, die nicht nur freies Spiel der Formen sein wollte, legitimierte sich als schöpferisches Äquivalent zum Schöpferischen der Natur, als energetische Totalität, die die äußere und die innere Natur umfasst und im offenen Prozess des Bildes den offenen Prozess der Natur gestaltet.[vi] Die Kunst der Gegenwart hat ihren Aktionsraum medial, stilistisch, thematisch ausgedehnt und dabei eine Gleich-Gültigkeit hergestellt. Malerei, Fotografie, Film, Zeichnung, Objektkunst und Installation stehen nebeneinander und verbinden sich ebenso zu gattungsübergreifenden Konstellationen. Nicht nur die Malerei, auch das Bild der Landschaft ist weiterhin präsent, obwohl das Ende der traditionellen Landschaftsmalerei festgestellt wurde. Die Bildmedien zeigen Landschaft allerdings nicht mehr im Sinne der abbildenden Gestaltung von Naturausschnitten oder der unbefragten romantischen Sehnsucht nach Transzendierung. Mehr denn je ist sich die Kunst ihrer Geschichte und ihrer Bildstrategien bewusst, reflektiert in den verschiedenen Medien kritisch die Bedingungen und Modelle von Abbildung und Bilderzeugung, macht die Methoden der Kunst, Natur zu zeigen, selbst zum Thema der Kunst. Dieser Einsicht der Kunst in ihre Eigenschaften widerspricht nicht, dass die Kunst der Gegenwart nicht auch versucht, sich der Natur als Möglichkeit authentischer, ursprünglicher Erfahrung anzunähern. So vereint die Ausstellung Ferne Nähe Künstler, die Bilder der Natur entwerfen, indem sie Natur reproduzieren, imitieren, verfremden, erforschen, erfinden, Natur als das Unbekannte und Andere zitieren, sie als Kreislauf vorführen, zwischen Wachstum und Vergehen, Tag und Nacht, Licht und Dunkel, Kälte und Wärme. Natur wird in höchst artifizielle Produkte verwandelt, vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und ökologischer Fragen diskutiert oder über den Begriff des Prozessualen und Zeitlichen mit der Kunst verschränkt. Die Ausstellung fügt die verschiedenen Positionen nicht zu einer stringenten Geschichte zusammen, erst recht gibt sie keinen Überblick über das Thema, deutet aber dessen Weite an mit Bildern der Natur, die von elementarer Kraft, Künstlichkeit und Verlust sprechen.
Oft wird die Entfernung und der Verlust von Natur beklagt, diese als unumkehrbare geschichtliche Entwicklung zu diagnostizieren, wäre wohl verfrüht. Ebenso wenig kann aus solcher Erfahrung der Entfernung heraus der Kunst eine kompensatorische Funktion der Rückgewinnung von Natur zugeordnet werden, sie kann die Natur nicht als Natur zurückholen. Und selbst wenn sie nur von deren Verschwinden handelt und eben dieses Verschwinden als Erscheinen festhält, wenn sie „das Entgleitende“ objektiviert und „zur Dauer“ zitiert,[vii] agiert sie dabei aber immer auf dem eigenen Feld ästhetischer Erfahrung. Dennoch erleben wir, dass es gerade die Kunst ist, die durch ihre Bilder mit der Natur verbundene Emotionen, Vorstellungen, Erinnerungen hervorruft und damit das Bild der Natur bewahrt und weiterentwickelt, und dass es andererseits die Natur ist, die als autonome, lebendige Wirklichkeit in die naturfernen Räume der Kunst einzudringen und sie zu aktivieren vermag.
Die Beziehung zwischen Innen und Außen behandelt auch die Arbeit Probesitzen im h.c. von Walter Kütz (Abb. S. XX), der jedoch dem Verfallen der Natur ihr Wachstum entgegenhält. Kütz verwendet verschiedene Moose, weil sie noch keine spezialisierten und exponierten Einzelpflanzen sind und sich als primitive Organismen auch unter schwierigen Bedingungen zu kompakten grünen Pelzen entwickeln. Wenn er sie in anschließend dicht verschlossene Glaskuben einsetzt, entstehen autonome Biotope mit einer eigenen Atmosphäre. Die Feuchtigkeitszirkulation in den Behältern, das Licht von Neonröhren ermöglichen das Wachstum der Moose, den Kreislauf der Natur. Eine Vielzahl dieser Glaskörper schichtet und verdichtet Kütz zu einem großen stabil und instabil, schwer und leicht wirkenden System. Aus der Distanz erscheint es als Skulptur im Raum, es ist aber auch ein Objekt der Verführung, ein leuchtender grüner Kristall, der den Betrachter an sich heranzieht. Das Glas kommt in seiner Doppelfunktion zur Wirkung. Es gewährt einen Blick auf die lebendigen Prozesse der Natur, blockiert jedoch andere Sinne, Hören, Riechen, Tasten, weist einen weiteren Zugriff ab. Gegen das weiche Wuchern des Mooses ist die kristalline Härte und kühle Geometrie des Glases gestellt. Die hier erfahrene Trennung in Außen und Innen benennt ein zentrales Motiv der Arbeit des Künstlers. Er befragt die Rechtmäßigkeit einer Aufspaltung in ein betrachtendes Subjekt und ein betrachtetes Objekt, das für unser Verhältnis zur Natur gelten soll. Als etwas, das nur außerhalb meiner ist, kann die Natur gar nicht begriffen werden. Wir erleben uns selbst als Natur, Kütz führt uns daher an seine Skulptur heran und in sie hinein, als blickten wir nicht nur auf irgendwelche Moose, sondern in den eigenen Organismus und seine Stoffwechselprozesse, in die innere Natur, die vielleicht genauso fremd erscheint wie die äußere. Im Zentrum dieses hermetischen wie gläsern durchsichtigen Körpers (h.c. = hortus conclusus = geschlossener Garten) gibt es eine potenzielle Öffnung, eine ovale Klappe, hinter der wir modrige Wärme fühlen, das Plätschern von Wasser hören, Ampullen, Reagenzgläser, Tassen und Sektkelche sehen, die die Position wissenschaftlicher Analyse, aber auch die sinnlichen Angebote des Lebens repräsentieren. Davor stehen Stuhl und Tisch. Eine Tür markiert einen weiteren Ein- und Ausgang. Wie ein großer Kopf wölbt sich das System der Glaskuben darüber. Die Skulptur ist Naturraum und darin ebenso Denk- und Sprachraum, in dem sich der Betrachter reflektierend und imaginativ bewegt und den er bewohnt, ein Ort des Ichs. In die Glasscheiben hat Kütz Buchstaben, Worte, Sätze graviert, in die die Moose hineinwachsen. Dem Licht, das die Skulptur beleuchtet und aus ihr herauszuströmen scheint, wächst so auch eine metaphorische Bedeutung zu, es ist das Licht der Erkenntnis, der Selbsterkenntnis.
[i] Georg Simmel, Philosophie der Landschaft, in: Die Güldenkammer. Eine bremische Monatsschrift, herausgegeben von Sophie Dorothea Gallwitz, Gustav Friedrich Hartlaub und Hermann Smidt, 3. Jg., 1913, Heft II, S. 635-644.
[ii] Vgl. Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995 u.a.
[iii] Vgl. Ernst von Glasersfeld, Die Welt als „Black box“, in: Valentin Braitenberg/Inga Hosp (Hg.), Die Natur ist unser Modell von ihr. Forschung und Philosophie, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 15-26.
[iv] Vgl. Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt am Main 1991, S. 26.
[v] Siehe zum Beispiel die amerikanische und englische Land Art, die Aneignung von Natur bei Joseph Beuys, Ana Mendieta, Giuseppe Penone, Wolfgang Laib und anderen.
[vi] Vgl. Gottfried Boehm, Das neue Bild der Natur. Nach dem Ende der Landschaftsmalerei, in: Manfred Smuda (Hg.), Landschaft, Frankfurt am Main 1986, S. 87-110, weiterhin Stefan Gronert, Die bilderlose Natur. Vom Wandel der Naturerfahrung in der Kunst der neueren Moderne, in: Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik und Naturerfahrung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 521-536.
[vii] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1973ff, Bd 7 (5 1990) , S.114.