Meike Steiger
Körper von Gewicht
Die zwei den Raum dominierenden Arbeiten von Walter Kütz im Forum Kunst Rottweil sind schwer und leicht zugleich. Der erste Eindruck ist paradox. Einerseits sind die Skulpturen gewichtig: Sie sind groß, schwer und aus dichtem Material, die Form ist partiell geschlossen, klar und streng, die Gehalte sind ernst, dramatisch und kraftvoll, sie entziehen sich dem unmittelbaren Verständnis. Andererseits sind die Skulpturen leicht: Ihre Größe ist auf das menschliche Maß bezogen, ihre Materialien sind leichter als die traditionellen Bildhauerstoffe Stein und Bronze, die Formen erscheinen weich, differenziert und offen, die Gehalte sind alltäglich und unterhaltsam. Wie kommt es zu dieser skulpturalen Einheit einer in sich widersprüchlichen Vielheit?
Die Skulptur Probesitzen im H.c., 2000-2009, ist ein aus kubischen, grünen Glasbecken zusammengesetzter dichter Quader. Zugleich erscheint die Arbeit aber auch als ein offenes Ensemble aus transparenten, verschieden großen, in zahlreichen grün und braun Tönen leuchtenden Glasbecken, das ergänzt wird durch einen hölzernen Stuhl, Tisch und Schrank. Kütz' Arbeiten stehen und hängen gewichtig im Raum; wie natürlich trägt der Boden ihre große Schwere. Das Gewicht ist verteilt auf Boden und Decke, womit das architektonische und skulpturale Grundproblem von Stütze und Last doppelt realisiert ist. Das monumentale Gewicht wird durch die Leichtigkeit der Lastenverteilung ausbalanciert. Diese zwei gegensätzlichen Momente von Skulptur, ihre Leichtigkeit und ihre Schwere, nimmt auch Kitahara-Kit (Das Eismeer), 2002, auf und verschiebt dabei leicht die Gewichtungen: Aus großen Wachsblöcken, Abgüssen von Kühlschränken, gefügt erhebt die Skulptur sich über einer quadratischen Grundfläche als zunächst geschlossener Block, der sich allerdings nach oben hin durch die lockere Deckenhängung auflöst. So wird hier bereits in der äußeren Gestalt die formale Geschlossenheit aufgehoben; eine Öffnung also, die sich in der teilweisen Durchsichtigkeit der partiell kühl-farbigen Wachsblöcke, also in den Einzelelementen der Arbeit wiederholt.
Probesitzen im H.c. zeigt sich dagegen formal als eine Einheit: Die Skulptur steht im Raum als minimalistischer grüner Quader. Zugleich aber ist die Arbeit auf den Ausstellungsraum angewiesen. Sie kann nicht im Freien stehen, und die Länge ihrer Drähte misst die Höhe des Raumes aus. Trotzdem wechselt ihre Erscheinung nicht mit verschiedenen Raumgrößen, sondern sie behält ihre statische Form. Obwohl schwere Blöcke die festgefügte Form aufbauen, ist sie sehr fragil, werden die hängenden Becken zum Teil doch nur durch transparentes Klebeband gehalten. Gleiches gilt für die weiße Skulptur im Raum: Sie ist leicht aus der Form zu bringen. Mit nur wenig Kraft sind mit Hilfe der Flaschenzüge einzelne der schweren Elemente zu bewegen. Wie die Skulpturen vom Raum abhängen, so werden sie durch das menschliche Maß bestimmt. Ihre Größen werden auch durch die integrierten Möbelstücke - ein hölzernes Bettgestell hier, Stuhl, Tisch und Schrank dort - vorgeschrieben, die den Skulpturen zusätzlich Halt geben. Die scheinbar nur formal definierten minimalistischen Skulpturen werden also durch räumliche und menschliche Parameter formiert.
Es ist offensichtlich, dass die einerseits hermetische Form der grünen Skulptur, auf die auch ihr Titel verweist (H.c.= Hortus conclusus = geschlossener Garten), andererseits offen ist. Die Glasfront eröffnet mit ihrer Durchsichtigkeit den Blick nach innen. Jedes einzelne Becken beherbergt einen eigenen Mikrokosmos: dunkle und erdige Moose, die in Hügeln Hänge emporwachsen, zarte helle Gräser, die an den Wänden emporklettern, leuchtende Farne, die sich entrollend den Luftraum füllen. Sind diese kleinen Biotope zum einen der fast völligen Abgeschlossenheit nach außen bedürftig, um sich durch ihre eigene Feuchtigkeitszirkulation zu erhalten, so brauchen sie zum anderen auch das hier künstlich erzeugte Licht, das die Scheiben seinem physikalischen Gesetz folgend durchdringt. Thematisch wird so als weiterer Gegensatz der Kützschen Skulptur Außen und Innen: Das materiell im Kontrast zu den gläsernen Becken stehende hölzerne Interieur dient den Gläsern äußerlich als Stütze und zugleich wandert das Inventar in die Kuben, wenn die (Tisch- und Stuhl-)Beine in der Landschaft zum Stehen kommen. Die gewichtige Geschlossenheit des Quaders wird durch die lockere Fügung und hohe Diversität der Einzelteile, das Unterlaufen der Unterscheidung von Außen und Innen sowie die ambivalenten Qualitäten des Materials aufgebrochen.
Ein verwandtes Wechselverhältnis von Offenheit und Geschlossenheit realisiert auch Kitahara-Kit: Die einzelnen Wachsblöcke zeigen sich, ebenso wie die ganze Arbeit, sowohl offen als auch geschlossen. Zuerst erscheint das Paraffin opak, und es stoppt den Blick, aber dann werden in die Blöcke eingelassene Objekte sichtbar, und das Wachs erinnert an halbtransparentes Eis. Der strenge Eindruck der weißen Objekte wird zusätzlich durch die Weichheit des Materials konterkariert. Es gibt keine scharfen Ecken, aber viele empfindliche Kanten. Die Skulptur ist durch eine traditionelle bildhauerische Technik hergestellt worden: Das Abgießen produziert massive, schwere Objekte. Walter Kütz benutzt dafür aber keine extra für die Kunst hergestellten Negativformen, sondern gefundene Formen, konkret Kühlschränke. Seine Abgüsse verstecken nicht ihre Herkunft, sondern zeigen, dass sie gemacht sind. Auf der Wachsoberfläche sieht man die Rillen der Kühlschrankinnenwände, in die Paraffinblöcke sind Kühlschrankteile eingegossen und Herdplatten, die auf den Prozess des Wachsschmelzens referieren. Kütz verwendet im Vergleich zur klassischen Skulptur billigere, leichtere und fragilere Materialen, was dem gewichtigen Eindruck der großen Abgüsse entgegenarbeitet.
Vom Titel her und ikonographisch erinnert Kitahara-Kit (Das Eismeer) an Caspar David Friedrichs berühmtes Bild Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung), das die zerborstenen Balken eines im aufgebrochenen Eismeer gesunkenen Schiffes zeigt. Bereits der Titel des spätromantischen Kunstwerks markiert seine symbolische Bedeutung. Bei Kitahara-Kit (Das Eismeer) sehen die großen Wachsobjekte wie Eisblöcke aus, in die das hölzerne Bettgestell eingekeilt ist. Auf der einen Seite führt die Skulptur also die symbolische Welt der Romantik fort, indem es eine warme menschliche Zuflucht zeigt, die durch eine wilde natürliche Kraft vernichtet ist. Auf der anderen Seite vermeidet Kütz' Arbeit die gewichtige symbolische Ausdrucksform romantischer Kunst, indem sie den Fokus von der symbolischen Referenz weg auf das künstlerische Material und die bildhauerische Form verschiebt. Diese Referenz auf das Material und seine Erscheinungsformen nimmt Ideen des Werks von Joseph Beuys auf. Aber viel mehr als Beuys insistieren Kütz' Arbeiten auf das Kunstwerk als geschlossene Form, eben auf den Kunstcharakter der Kunst.
Wie die Kontextualisierung mit der Kunstgeschichte zeigt, arbeitet Kütz mit zentralen Ideen und Darstellungsformen der Minimal Art, Caspar David Friedrichs Romantik und Joseph Beuys Installationen. Im Werk von Walter Kütz wird die Tradition ernsthaft aufgenommen, ohne dass es beim Eklektizismus bleibt, der nur die ausgewählten Sahnestücke der Vergangenheit ausstellt. Kütz' Skulpturen bewahren die gewichtigen Ansprüche verschiedener künstlerischer Darstellungsformen, und zugleich balancieren sie diese Schwere durch ihre Leichtigkeit aus. Dies geschieht nicht in der puren Negation, sondern dargestellt wird die Leichtigkeit in der Gewichtigkeit: das Materielle im Symbolischen, das Formale im Materiellen, das Gestische im Formalen. Kütz sucht nach der Leichtigkeit in der Schwere und so machen seine Skulpturen bewusst, dass die Dinge weder schwer noch leicht sind, sondern dass sie so präsentiert werden, als ob sie diese Eigenschaften hätten. Was schwer oder leicht ist, wird durch die künstlerische Repräsentation definiert. Dieses Verfahren meint der Titel "Körper von Gewicht": Er ist entliehen vom gleichnamigen Buch Judith Butlers, die darin zeigt, inwiefern selbst der physische Körper kulturell konstruiert ist. Eine These, die hier vom menschlichen Körper, den Butler in gender-theoretischer Intention anspricht, auf den bildhauerischen Körper und seine Repräsentationsformen übertragen ist.