Till Finger
Text zu One Size fits all
Ich betrete den hohen Raum des Forums. Meine Aufmerksamkeit, zuerst zur Raummitte gerichtet, wird abrupt nach oben gelenkt: Zunächst nur aus den Augenwinkeln und daher diffus erfasst, nehme ich dort oben etwas Großes und Dunkles wahr, das in den Raum ragt. Etwas wie eine sich überschlagende Welle, die sich über die gesamte Frontwand erstreckt. Mein haltsuchendes Auge erfasst nun einige konturierte, rechteckige Formen – es sind Holztische und –stühle, die wie Treibholz inmitten einer im Wogen erstarrten Masse zu stecken scheinen. Einer Masse aus Jacken, Hosen – Kleidung, an deren vorspringenden, in den Raum brandenden Spitzen sich Tiermäuler, ganze Tierköpfe bilden. Seidig glänzendes Mantelfutter spannt sich zu muskulösen Pferdehälsen, zwischen Stoffschichtungen und Bundfalten erkenne ich einen Ochsen und einen Esel, sehe Decken, Jacken, Schlafsäcke und Schuhe, die hinten auf die Rücken der beiden Lasttiere gegurtet, noch Gepäck sind und vorne schon Nüstern, Stirn und Eselsohr bilden. Ein Rhinozeros stößt am Grund der Welle aus den Innereien eines berstenden Koffers hervor, an einem Stuhl rankt sich ein Hirschgeweih aus Loden, Tweed und Krawatten hoch. Darunter mutieren Persianermäntel, noch immer an längst vergangene Pracht und Status erinnernd, zu einem erhabenen Stier. Der Minotaurus? Nun, auf die mythologische Fährte gebracht, werde ich im Faltendickicht unterhalb der vorpreschenden Hälse fündig: Mäanderverzierte Wolldecken verwandeln sich in einen prächtigen Hammelkopf, den ich mit dem Bocksbein darunter zu einem im Schatten hockenden Faun verbinde und darüber rauft sich - hier der Flügel, dort Schulter, Hals und Pferdekopf – ein landender Pegasus zusammen.
Je näher ich die Details dieser strandenden Arche betrachte, desto plastischer tritt die sich auffächernde Struktur der gesamten Arbeit hervor, der erste Eindruck von Chaos und Überwältigung löst sich weitgehend auf. Das Pathos, das Apokalyptische und Bodenlose, das die Skulptur schon durch den stürzenden Gestus aus großer Höhe und ihre schiere Größe und Masse provoziert, verliert seine Namenlosigkeit durch viele vertraute Details. Gürtel, Gepäcknetze und Hosenträger halten die Gewalten im Zaum, bändigen die Wucht des Ansturms.
Ist nicht dieser ganze Fundus aus Kleidern, Koffern und Mobiliar da oben eine Sammlung von Artefakten des homo sapiens, der sich den Fundus der Natur anverwandelt und aneignet?
Ein fliegendes Arsenal zivilisatorischer Ausstattungsgegenstände, mit dem der Mensch des Anthropozäns seine Nacktheit bekleidet?
Sind nicht alle diese Figuren, das ganze Bestiarium, auch Repräsentationen unserer Triebe, unserer existentiellen und psychischen Zustände?
Ein Panoptikum der Verwandlungen und verschiedenen Lesarten: Vom bloßen Stoffbündel zur Physiognomie des Tierkopfs – zum Seelenbild des Unbewussten – zum Symbol – zur mythologischen Figur – zum Kunstgegenstand?
Im Zurückgehen, um nun das ganze Panorama in Augenschein zu nehmen, sehe ich das Loch in der Wand, ein kleines Bohrloch, etwa in Augenhöhe weit unterhalb der wogenden Masse. Tatsächlich, all diese Hälse und Mäuler, Ärsche und Hosen, Wickelköpfe, Kopfbündel, Mantelflügel, Bündelschnauzen und Faltenhörner strecken sich diesem einen Loch entgegen. Die ganze mutierende, barocke Fülle dort oben steht im Banne dieses Loches, wird von ihm wie an- oder aufgesogen. Die auf einer imaginären Spitze tanzende Pyramide der vielfältigen Emanationen kulminiert in diesem winzigen Punkt. Ein Endpunkt? Ein Durchgang? Ein Übergang? Jetzt schaue ich an mir herunter, Hose, Schuhe, Jacke, Mantel, ja, auch ich bin Teil des Spiels.